Experteninterview mit Friederike Hasse

Friederike Hasse ist studierte Psychologin und arbeitet bei Bei Selfapy. Das ist ein junges Unternehmen, das Online Kurse gegen psychische Erkrankungen anbietet. Seit kurzem gibt es diese Kurse als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA), die auf Rezept verordnet werden können und von den Gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Schwerpunkt sind aktuell Depression und Angststörungen, Kurse gegen Essstörungen folgen bald.
Bei Selfapy verantwortet Friederike Hasse den Fachdialog zu Ärzten, Psychotherapeuten und Kliniken und erprobt neue Kurskonzepte in Kooperation mit externen Forschern. Sie hält Alternativangebote zu psychotherapeutischer Einzeltherapie für essentiell, weil die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz oft unzumutbar lang sind. Digitale Anwendungen und Gruppentherapie sind hierfür gute und wirksame Möglichkeiten.

Gruppenplatz im Interview mit Frederike Hasse

Friederike, welches sind Deine Erfahrungen mit Gruppentherapien?
Frau Hasse: Ich kenne Gruppentherapien primär aus meiner Arbeit in Kliniken. Dort fand ich, dass sie oft Erstaunliches hervorbringen. Jeder Mensch hat ja ganz unterschiedliche Seiten und manchmal ist die Ebene, die Klient*innen mit sich selbst haben, eine ganz andere als die Ebene, die sie mit Anderen zeigen. Plötzlich sind Klient*innen, die in der Einzeltherapie sehr zaghaft waren, in der Gruppentherapie stark und einfühlsam. Sie erleben dann, dass sie viele Seiten in sich tragen. Seiten, die sie selber lange nicht mehr erlebt haben, weil sie inzwischen vielleicht zurückgezogen leben. Gerade wenn es uns schlecht geht, sollten wir nicht vergessen, dass Gemeinschaft zwar verletzen kann, uns aber auch Unterstützung und neue Sichtweisen bietet.

Welchen Mehrwert siehst Du in der Arbeit mit Gruppen?

Frau Hasse: An erster Stelle im Perspektivwechsel. Wenn Klient*innen in einer Gruppe arbeiten, erleben sie so viele Realitäten eines Problems und des Umgangs mit diesem Problem wie Gruppenteilnehmer*innen. Das ist gesund, da Klient*innen im Tunnelblick einer psychischen Belastung oft die vielen Dinge übersehen, die sie auch einmal anders ausprobieren könnten. Manchmal finden andere Menschen eben gute Lösungen, auf die wir selbst so nicht kommen oder die wir bisher nicht annehmen konnten. Lernen am Modell, das Erfahren der eigenen sozialen Kompetenzen und Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft sind starke Wirkfaktoren einer Gruppentherapie. Letztlich muss das aber nicht für jeden gelten. Wichtig ist, dass es verschiedene Angebote gibt, damit jede*0000r Klient*in ein für sich passendes Angebot finden kann.

Du selber arbeitest aber nicht im Bereich der Gruppentherapie, sondern an digitalen Angeboten gegen psychische Erkrankungen. Wie funktioniert das und wie lässt sich das mit Gruppentherapie vereinen?

Frau Hasse: Bei Bei Selfapy bieten wir Online Kurse an, in denen Patienten wie in einem multimodalen digitalen Buch die Grundlagen der Verhaltenstherapie zu ihrer Diagnose erlernen. Jedes Kapitel führt in ein neues Thema ein und kombiniert Psychoedukation und Übungen, die das Gelernte in den Alltag übertragen. Quasi als Selbstlernkurs, in dem Patienten aber einen persönlichen Psychologen zur Seite gestellt bekommen, der Fragen zum Kurs beantwortet und zur Überwachungs der Patientensicherheit die Verlaufsdiagnostik im Auge hat.
Tatsächlich würde ich vorschlagen, digitale Angebote (eMental Health) und Gruppenangebote hintereinander zu nutzen: Ein Online Kurs erlaubt Patienten zunächst niedrigschwellig und anonym herauszufinden, wie Therapie funktionieren könnte. So bekommen sie ein besseres Verständnis für sich und ihre Probleme. Sind Patienten dann schon gefestigter, können sie diese Erfahrungen anschließend mit denen anderer Patienten ergänzen. Möglicherweise haben sie in der Zwischenzeit auch einen Einzeltherapie Platz erhalten.
Wo siehst Du die größten Chancen/Mehrwert von E-Health?
Frau Hasse: Der Bedarf an Psychotherapie steigt seit Jahren, eine Entwicklung die nun durch Corona nochmals verschärft wird. Dieser Bedarf wird aber nicht ausreichend aufgefangen. Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind oft monatelang. Das hat vielseitige Folgen: Chronifizierung von Erkrankungen, zusätzliche Destabilisierung von Menschen, die bereits geschwächt sind und volkswirtschaftlich hohe Kosten. Deutschland ist ein tolles Land für Psychotherapie, wenn wir uns weltweit umsehen. Dennoch sind das Zustände, die wir bei körperlichen Erkrankungen niemals hinnehmen würden. Digitale Angebote können hier als zusätzliches Angebot Abhilfe schaffen, da sie schnell und weit skalierbar sind. Sie sollen Psychotherapie nicht ersetzen, sie aber ergänzen. Darüber hinaus können Online Kurse zu jeder Zeit an jedem Ort genutzt werden, auch, wenn die Praxis gerade geschlossen ist. Und sie können Menschen helfen, die aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung eine traditionelle Behandlung oft schmerzhaft lange hinauszögern.